Du bist ein Gott, der mich sieht.
1. Mose 16
Dieser Ausruf Hagars, nieder geschrieben im Buch Genesis, ist so klar und einfach wie selbstwirksam. Sie irrt hochschwanger mit Abrahams erstem Sohn, verstoßen und halb verdurstet, durch die Wüste. Da begegnet sie einem Engel, der ihr den Weg nach Hause zeigt. Als Sklavin und Frau wird sie in der damaligen Gesellschaft doppelt missachtet und zugleich von Sara um ihre Fruchtbarkeit beneidet. Das schwache Weib Hagar wird zur starken Frau, indem sie dem Ruf des Engels folgt und heimkehrt, um dem gemeinsamen Kind Heimat zu geben. In Würde erträgt sie die fortgesetzten Schmähungen Saras und zieht dabei den Kürzeren, denn nachdem Sara Isaak geboren hat, wird Hagar abermals von ihr in die Wüste gejagt.
Gesehen werden - von Gott und den Mitmenschen - das ist für uns ein Lebenselixier. Dieser Blick auf die Nächsten kommt im Alltag oft zu kurz. Was kosten uns Lächeln oder Lob gegenüber der Bäckersfrau oder dem Putzmann? Warum schaffen wir es so selten, uns in die Perspektive unserer Gegenüber, vielleicht auch Andersdenkender, zu versetzen und uns mit ihnen in einen ehrlichen Diskurs zu begeben? Manchmal genügt ein Blick auf deren Lebensweg und aktuelle Situation, um von uns differierende Haltungen nachzuvollziehen. Auch wenn die Wege der Mitmenschen nicht unsere sind, sollten wir aufeinander schauen, statt uns abzuwenden, Toleranz trainieren, statt uns zu bekämpfen.
Hagar hat um ihres Sohnes Ismael Wohl eigene Schmach ertragen und ihm eine Zukunft gesichert. Haben nicht auch wir jetzt Lebenden die Aufgabe, den nächsten Generationen eine friedliche Erde mit intakter Natur, gegenseitiger Zugewandtheit, dem Glauben aneinander und an etwas Höheres zu hinterlassen? Leider war dies nie mehr gefährdet als jetzt.
Trotzdem wünsche ich Ihnen Zuversicht und ein hoffentlich erfülltes Jahr 2023 mit zumindest wenigen Kümmernissen.
Ines Richter-Kuhn
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