Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Mt 5,7
Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro holte die Russin Margarita Mamun Gold – dicht gefolgt von ihrer Teamkollegin Jana Kudrijawzewa. Noch immer kann man ihre Beiträge in den gymnastischen Disziplinen anschauen und noch immer verschlägt es einem den Atem, wenn man sich das anschaut – selbst, wenn man sonst weniger ein Fan von rhythmischer Sport-Gymnastik ist. Ihre Choreografien sind geprägt von Konzentration, Körperspannung und einer Leidenschaft, die nach Perfektion strebt.
So sehr ich von dem fasziniert bin, was Margarita Mamun 2016 abgeliefert hat, so sehr frage ich mich auch, was sie das wohl gekostet hat. Der Weg zu olympischem Gold ist lang und hart. Sie hat schon als Kind mit Gymnastik begonnen und wurde mehr und mehr gefördert und angetrieben durch andere Menschen. Gab es den Punkt, wo Leidenschaft und Freude für die Sache einem destruktiven Perfektionismus gewichen sind? Es ist ja ein Unterschied, ob man um der Sache willen nach Perfektion strebt oder ob man es tut wegen der anderen. Vielleicht ist der Grad da auch recht schmal.
Perfektionismus ist ein großes Thema. Es füllt ohne Probleme mehrere Seiten. Dennoch möchte ich mit dir ein paar Gedanken dazu teilen. Denn es ist kommt nicht nur bei den höchsten Formen des sportlichen Wettbewerbs vor, sondern auch in den Niederungen des Alltags. Da stolpert solch manche*r drüber. Bei sich oder auch bei anderen.
Menschen, die zum Perfektionismus neigen, bringen oft große und sehr gute Dinge hervor. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist: Die treibende Kraft hinter (destruktivem) Perfektionismus ist Angst. Es ist die Angst davor, kritisiert zu werden. Die Angst, dass jemand auf die Idee käme, dass man nicht genügt und darum nicht liebenswert genug ist. Perfektion ist wie ein Schutzanzug. Und wie ein Gefängnis.
Die Glaubensgeschichten der Bibel sind geprägt von Erfolgen und Niederlagen. Die großen Glaubenshelden waren nach unseren (auch christlichen) Maßstäben in keiner Weise perfekt. Das heißt nicht, dass das immer positiv beurteilt wird. Aber wie oft beginnt Gott einen neuen Weg mit ihnen, gibt ihnen eine zweite Chance, begegnet ihnen mit Barmherzigkeit. Er kennt das menschliche Herz – und liebt es trotzdem.
Barmherzigkeit gehört zu den großen Tugenden unseres Glaubens. Sie äußert sich darin, einem anderen Menschen mit Achtung und Liebe zu begegnen, unabhängig davon, was er oder sie geleistet hat. Meistens kommt sie sogar gerade dann ins Spiel, wenn jemand nicht auf der Höhe ist. Denn sie ist nicht interessiert an der Leistung einer Person, sondern sie geht davon aus: Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Damit ist jeder Mensch ausgestattet mit Würde – sie muss nicht erst verdient werden.
Die erste Person, der wir mit Barmherzigkeit begegnen sollten – das sind wir selbst. Dann können wir das auch bei den anderen. Und das kann etwas tun mit der Angst, die zum Perfektionismus treibt. Wer weiß, dass er mit sich barmherzig sein darf, braucht sich nicht zu fürchten vor Kritik und Unvollkommenheit.
Karin Großmann, Studentenpfarrerin
Sonntag_Gedankentanken #4, 24. Mai 2020
Kommentar schreiben